Progressiv ist in den letzten Jahren auch zu so einem Modewort verkommen, das immer dann auftaucht, wenn irgendein Quark als besonders fortschrittlich und zukunftsweisend verkauft werden soll. Daneben wird es noch fachsprachlich genutzt, wenn im medizinischen oder finanziellen Sektor etwas stetig anwächst und fortschreitet. Ein fortschreitender Tumor ist allerdings selten fortschrittlich. Beide Bedeutungen vereinigt sind aber in der Musik zu finden. Bereits Ende der Sechziger wurde mit Progressive Rock eine neue Rockart definiert, die mit anderen Elementen fusionierte und damals als besonders fortschrittlich und modern galt. Mitte der Neunziger tat sich dann bei elektronischer Musik wieder etwas und der Zusatz Progressive kennzeichnete bei House, Techno und Trance Produktionen, die klarer strukturiert, weniger anarchistisch und linear aufgebaut waren. Hört man genauer hin, was Mitte der Neunziger alles an „progressive” auf dem Plattenteller landete, erkennt man, dass mit Adjektiven wie „aufbauend” oder „anwachsend” alleine dieser Musikstil kaum ausreichend beschrieben wird.
Elektronische Musik – fortschrittlich oder fortschreitend?
Als modern und fortschrittlich galten elektronische Musikstile wie Techno und House eine lange Zeit lang. Heutzutage ist es eher KI-generierte Musik, die mit Adjektiven wie zukunftsweisend in Verbindung gebracht wird. Salopp gesagt, kommt fortschrittlich immer dann ins Spiel, wenn etwas Neues durch eine Veränderung oder gänzlich aus dem Nichts heraus erschaffen wird. Ob das Ergebnis dann nicht nur zeitgemäß, sondern auch wegweisend ist, steht natürlich auf einem anderen Papier. So hatten sich Mitte der Neunziger viele Produktionen von House, Techno und Trance weitestgehend von dem entfernt, was diese Stile einst populär machte. Insbesondere Techno war in den Anfangsjahren viel lebhafter: Breakdowns, wechselnde Beatpattern, Vocals, Stabs, Peaks und Downs. Von der Struktur her fast ähnlich zu „UK Hardcore” (4beat), was so den flippigsten und anarchistischsten Sound der frühen Neunziger darstellt. Danach spaltete sich Techno in eine minimale und eine progressive Variante. House hingegen wurde ab 1992 durch die progressive Variante etwas schneller und ekstatischer. Dom Phillips (Mixmag) drückte es so aus: „Progressive House we’ll call it. It’s simple, it’s funky, it’s driving, and it could only be British”.
Wirft man einen Blick in die Geschichte von Architektur, Musik und Design, erkennt man, dass Extravagantes, Verzierungen und Experimente immer wieder durch Phasen der klaren und einfachen Struktur ersetzt wurden. Vergleicht man das mit der Wandlung im Bereich elektronischer Musik, wird die Analogie verständlich, die „progressive” damals eingeläutet hat. Und das beinhaltete mehr als nur eine vereinfachte Struktur. Schaut man sich zu Progressive House den Wikipedia-Eintrag an, liest man, dass diese Tracks sich langsam aufbauen, sich nur minimal ändern und ohne Hochs und Tiefs auskommen. Von einigen Hörer demzufolge sehr monoton wahrgenommen werden. Das mag für Produktionen ab den frühen 2010ern hinkommen, trifft aber bei den Wurzeln, die sich in den Neunziger gebildet hatten, eher daneben. Trotz linearer Struktur war dort noch ein wilder Charakter spürbar, der natürlich auch mit Hochs und Tiefs arbeitete. Insbesondere bei der progressiven Variante des Techno, die ab 1994 beliebt wurde.
Der Unterschied zum klassischen Techno ist, dass die Tracks weniger minimal und maschinenhaft einherkommen, dafür lebhafter wirken und auch Instrumentspuren beinhalten, die sonst bei Techno eher selten verwendet werden. Dazu zählen insbesondere Flächen, Perkussionen als auch Vocal-Samples. Hinzu kommt die strenge Strukturierung ähnlich einer Blaupause, als wäre der Track von einem Architekten am Reißbrett konzipiert – und nicht früh morgens im Amphetaminrausch zwischen Klotür und Sampler manisch zusammengedengelt. Ein Musterbeispiel des Progressive Techno ist der von Mark NRG bekannte Track „Brain Is The Weapon” (Overdrive, 1995). Er baut sich minimal im strengen 32er-Raster auf: zuerst nur Beat und Bass, dann Synth, Hihats und Snare. Später dezente Perkussion und einfache Flächen. Letztendlich auch kurze repetitive Vocals. Pause. Und nach der Pause werden alle Elemente (d.h. alle Audio-Spuren) einmal durchgetauscht. Das Ergebnis ist ein stark vorhersehbarer Track, der aber dennoch gut funktioniert, da alle Spuren miteinander harmonieren. Und sich obendrein ohne viel Aufwand gut mixen und in die meisten Sets integrieren lässt.
Bei Trance war die Entwicklung ähnlich. Hier existierten zwei Varianten: einmal die sphärische mit leichten Beats, komplexeren Arpeggios und vielen Flächen, bei einer Geschwindigkeit meist zwischen 125 und 135 BPM. Und dann das schnelle Hardtrance ab 150 BPM, zu dem in den Clubs abgefeiert wurde. Die Lücke füllte dann Progressive Trance, das man um 135 BPM eher als hypnotisch bezeichnen könnte. Zugegeben, die exakte Klassifizierung, in welcher Schublade ein Track nun am besten aufgehoben ist, ist manchmal kaum zu schaffen. Packt man „The Shadowman – Technostalgic” nun zu Progressive House oder Progressive Techno? Oder „Funtopia – Do You Wanna Know (Gut Drum Mix)” nicht doch eher zu Progressive Trance? Letztendlich auch nicht relevant. Zählen tut, dass Progressive in den Neunzigern viele elektronischen Musikstile umgekrempelt und erweitert hat. Selbst bei Drum’n’Bass war der Einfluss spürbar – nimmt man z. B. „P.F.M. – The Western Tune” (Good Looking, 1995), hat das kaum noch etwas mit dem gemein, was man um 1993 und 1994 von Produzenten wie Rob Playford oder dem „Suburban Base”-Label gewohnt war,
Handvoll Progressive Techno zum Reinhören
- Aftrax – The Mask (Swept Q) [NovaMute 1995]
- Steve Mason – Heaven Rushing Out [Experience Grooves 1995]
- Tata Box Inhibitors – Protein [Touché 1995]
- Slam – Positive Education [Soma 1995]
- Emmanuel Top – Turkish Bazar [Le Petit Prince 1994]
- David Holmes – Minus 61 in Detroit [Go! Beat 1995]
- Outsider – Pain In My Brain [Jus‘ Trax 1996]
- Epik – The Blob (2 High VS. The Blob) [Aura 1996]
Handvoll Progressive Trance zum Reinhören
- Blu Peter – Magic (On A Swing) [React 1995]
- Laurent Garnier – Wake Up! [Fnac 1993]
- Synful Dyme – Pin Pac [Superstition 1994]
- Orbital – Lush 3-2 [Internal 1993]
- Lucky People Center – To The Space [Beverage 1995]
- Luke Cage – Stripped [Ground Groove 1996]
- The Auranaut – Groove On Dream Off [Disruptive Pattern 1995]
- Freak Force – Rising Orion [Taste 1995]
Handvoll Progressive House zum Reinhören
- Funtopia – Do You Wanna Know (Gut Drum Mix) [PrimaVera 1994]
- Fix To Fax – Pick It Up [Funny Vinyl 1994]
- Monumental – Mandala (The Crunch Mix) [Deep Distraxion 1993]
- Dreadzone – Captain Dread (Walk the Plank Mix) [Virgin 1995]
- Electric Fruit Orchestra – Disco Stomp (Club Mix) [La Maison Grande 1995]
- The Shadowman – Technostalgic [Urban Sound of Amsterdam 1995]
- Boom-Box – Get It Girl (Art Mix) [Jam 1995]
- Phuture – Rise from your Grave (Morley’s Expansion Mix) [R&S 1993]
Progressive und stoned – ein fast perfektes Paar
Bereits um 1994 fiel mir die wundersame Wirkung von Cannabis auf die Wahrnehmung elektronischer Musik auf. Besonders dann, wenn der Sound klar strukturiert war. Da fiel es mir beim Hören leicht, den Track in einzelne Spuren zu zerlegen – in Echtzeit Instrumente auszublenden oder neue einfach hinzu zu halluzinieren. Ähnlich dem, was heutzutage eine KI macht, wenn aus einer Bilddatei ein Video generiert werden soll. Sind auf dem Bild Elemente nur halb zu sehen oder sonstwie zerstückelt, muss daraus wieder etwas Ganzes interpoliert („dazwischengeglättet”) werden. Was über Ähnlichkeitsmuster geschieht. So tauchen oft im Endprodukt seltsame Transformationen auf, wo man sich fragt, was die KI dabei geritten hat. Ist man stoned, finden mental ähnliche Prozesse statt – heißt, die Interpolation bei fragmentarisch wahrgenommenen Dingen ist weitaus stärker ausgeprägt als sonst. So werden z. B. bei Abendspaziergängen wahrgenommene Dinge in der Ferne gerne anders vereinigt als sie in der Nähe wirklich sind. Und das macht den Reiz bei der Wahrnehmung elektronischer Musik aus – und der abstrakte Begriff „Bewusstseinserweiterung” wird konkret.
… Wie komme ich da jetzt drauf? Richtig, da war ja dieses Legalisierungskonstrukt im Frühjahr, das dann unerwartet doch noch kam, und in typisch deutscher Manier den bürokratischen Kabelsalat mit obenrauf setzte. Erinnerte ein wenig an die Corona-Gesetze von vor vier Jahren: Ab dem elften Gast wird die Silvesterparty illegal – und unter 1,50m Abstand beim Einkauf muss bei Aldi die Kassiererin nach behördlicher Anordnung meckern. Nun sind es drei Pflanzen, von denen 50 Gramm Ertrag in der Bude straffrei gebunkert werden. Ab 60 Gramm wird es strafbar, die zehn Gramm dazwischen führen wahrscheinlich zu einer Ermahnung. Wie auch immer, für mich reichen 50 Gramm bis zur Rente – zu Bestzeiten anno 1994 wäre ich damit sicher nur einen lausigen Monat hingekommen. Sei es drum, so konnte ich in diesem Jahr nach 30 Jahren Pause mal wieder Gärtner spielen und stand im Oktober mit exakt 50 Gramm feinstem Cali-Weed (aus nur einer Pflanze) da, das durch Sonnenlicht, Dünger und Wasser auf meinem Balkon wie von Zauberhand gewachsen war. Und mich in diesem Herbst mit Wucht zurück zum „Progressive Sound” der Neunziger geführt hat.
In the Mix – Retrogressive Sessions 2024.24
Nachdem im letzten Jahr Electro und IDM den Intellekt beflügelten, war es diesmal wieder an der Zeit, einen Mix rauszuhauen, der auf dem „Breit-O-Meter” die volle Punktzahl erreicht. Sprich, eine 80-minütige Reise, die zum Abdriften in die seltener besuchten Regionen des Geistes einlädt. Den Auftakt machen fünf Tracks zum Warmwerden, bevor es dann mit einer progressiven Selektion aus Techno, House und Trance mit voller Kraft in den Take-off geht.
- Synful Dyme – Pin Pac [Superstition 1994]
- Sunstone 2 – Deep and Refreshing [Tribal Sun 1995]
- Compass – Gliding [Cabinet 1995]
- André Schmid – 095 [Energetic 1995]
- Humate & Rabbit in the Moon – West [Superstition 1994]
- Blu Peter – Magic (On A Swing) [React 1995]
- Luke Cage – Stripped [Ground Groove 1996]
- Lucky People Center – To The Space [Beverage 1995]
- Emmanuel Top – Turkish Bazar [Attack 1994]
- Green Velvet – Flash (Acrid Abeyance Mix) [Hyper Hype 1995]
- Massimo Vivona – Trafex [Headzone 1996]
- Funtopia – Do You Wanna Know (Gut Drum Mix) [PrimaVera 1994]
- Orbital – Lush 3-2 [Internal 1993]
- Laurent Garnier – Wake Up! [Fnac 1993]
- Humate – 3.1 [Superstition 1995]
- Harmon Eyes – Tension [Loop 1994]
- Shi-Take – Lifeforce [Zoom 1995]
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