Mit mehr als 10.000 veröffentlichten Spielen hat es der Commodore 64 in den Achtzigern auf eine stattliche Ansammlung gebracht, mit der man sich das Rentenalter perfekt verlustieren könnte. Nannte man einen „Brotkasten“ sein Eigentum, fällt einen das Verständnis für die Magie der C64-Ära leicht. Hatte man nichts damit am Hut, stellt sich allenfalls die Frage, wie man sich so ein umständliches Gerät antun konnte, das einen nach langer Ladezeit oft schlecht steuerbare Sprites als „Spiel“ verkaufte. Denn eines muss man zugeben, legt man die Nostalgie beiseite: Ein Großteil der damaligen Spiele ist furchtbar gealtert und eher ein Fall fürs Museum. Glücklicherweise gab und gibt es immer Ausnahmen von der Regel, wo der Programmierer ein zukunftssicheres Produkt erschaffen hat. Netherworld ist eines von den C64-Relikten, das 1988 vom britischen Publisher Hewson veröffentlicht wurde und auch heute noch eine verblüffend gute Figur abgibt. Also ab damit in den Emulator.
8-Bit-Rückfahrkarte in die goldene C64-Ära
Einen originalen C64 mit RGB-Monitor (oder CRT-Fernseher) haben heute nur noch die Wenigsten daheim. Meiner wurde 1990 verramscht und in einen Amiga 500 umgetauscht. Also müssen für den Abstecher in die C64-Ära heute andere Lösungen her. Mit „TheC64“ gibt es seit einiger Zeit ein Nachbaugerät mit vorinstallierten Spielen, das sich über HDMI an einen modernen Fernseher anschließen lässt. Streng genommen handelt es sich um ein repliziertes Brotkastengehäuse, in dem sich ein Mini-PC auf Linux-Basis befindet, der die alte C64-Hardware emuliert. Ist momentan die bequemste Variante. Anstöpseln, einschalten und fertig. Ich habe mich für die kompaktere (und etwas aufwändigere) Variante entschieden, dasselbe mit einem Raspberry Pi 4 anzustellen, den ich zeitgemäß mit einem PS4-Controller über Bluetooth ansteuere. Also kein Kabelsalat mehr wie vor 35 Jahren. Einrichtung und Konfiguration des C64-Emulators haben einige Zeit in Anspruch genommen, was sich aber gelohnt hat. Denn richtig konfiguriert (mit CRT-Shadern) schaut so ein emulierter C64-Screen (fast) wie damals auf der guten alten Röhre aus. Vor der man übrigens im Abstand von nur einem Meter saß, weil das Joystick-Kabel kaum länger war. Aber das störte nicht.
Denn der C64 war ein Kultgerät, zweifelsfrei. Um damit die wirklich abgedrehten Sachen anzustellen, d. h. in Assembler Demos zu programmieren und aus dem SID-Soundchip polyphone Töne herauszuholen, war ich noch zu jung. Konnte mit zehn Jahren zwar etwas Spaghetticode-BASIC, aber das war’s auch schon. Also nutze ich das Gerät überwiegend für Spiele. Und davon gab es reichlich. Zugegeben, ein Großteil der gebunkerten 5¼-Zoll-Disketten waren „Raubkopien“ – der Definition nach ein Kopierdelikt, das durch Gewaltanwendung begangen wurde. Mit Gewalt habe ich die Disketten zwar selten ins Laufwerk geprügelt, aber sei es drum. Trotz der vielen Kopien hatte ich auch etliche Originalspiele. Die kosteten zwischen 10 und 50 DM, wobei die auf Kassette deutlich günstiger waren. Die Ladezeit war dafür erbarmungslos lang. Kam nicht selten vor, dass die Datasette eine halbe Stunde rödelte, bis endlich das Spiel startete. Mit dem Diskettenlaufwerk VC 1541-II ging das Auslesen der Floppy-Disk etwas flotter, pendelte die Übertragungsgeschwindigkeit je nach Programmierung zwischen 300 Bytes/s und 10 kB/s. Für ein Spiel wie „Netherworld“ saß man um die zwei Minuten vor dem Kasten, lauschte dem Geratter des Laufwerks und ließ sich von den bunt flackernden Rasterbars beduseln, bis die erste geladene Grafik erschien.
Netherworld – Diamanten einsammeln, und dann?
Netherworld war eines der Spiele, die ich 1988 im Original für 24,95 DM erworben hatte. Ich kann mir Preise gut merken, daher ist die Summe keine Floskel. Ich erinnere mich, dass ich es schlicht deshalb erwarb, weil mich das Cover ansprach. Auf der Vorderseite eine Zeichnung eines im All explodierenden Hauptes, aus dem Drachen, Planeten und Diamanten herausgeschleudert wurden. Auf der Rückseite eine dämonenhafte Kreatur, die zwei Screenshots in den Klauen hält. Sonst nichts. Keines der Dinge, die man heutzutage erwarten würde. Weder Inhaltsangabe, Eigenlob noch die üblichen Piktogramme für Bildungsferne, denen Texte zu kompliziert sind. Weniger war damals mehr. So geheimnisvoll die Verpackung, so irritiert der erster Eindruck. Anleitungen habe ich prinzipiell ignoriert und direkt das Spiel geladen. Lernen durch Handeln. Und hatte keinen Plan, was genau ich da machen soll. Ich hielt es für ein Actionspiel (was in Ansätzen auch stimmt), da man ein raumschiffähnliches Objekt steuerte und in alle vier Richtungen ballern konnte. Und da waren diese ominösen Drachen, die (mit Pustefix?) Seifenblasen erzeugten. Also abknallen! Nachdem ich mich erfolglos an den Kreaturen versucht hatte, und durch Zufall eines dieser Dinger doch noch in ein Knochengerüst verwandelte, war schon der Timer abgelaufen und ich durfte von vorn beginnen.
Lernen durch Schmerz. Nach weiteren erfolglosen Versuchen dämmerte mir, dass es eigentlich darum ging, die im Level verstreuten Diamanten einzusammeln. Die Seifenblasen konnte man wahrscheinlich deshalb abschießen, weil dadurch hin und wieder eines von vier möglichen Extras auftauchte. Die Pfeile wurden schnell als zusätzliche Geschwindigkeit gedeutet. Die Fragezeichen verwandelten in den meisten Fällen mein Flugobjekt in einen Flummi, der wie eine auf den Schwanz getretene Katze wild hin und hersprang. War also Mist. Das dritte Symbol sah aus wie eine Fernsehantenne, deren Nutzen mir schleierhaft war. Und das vierte Extra waren Totenköpfe. Also fokussierte ich mich aufs Diamantensammeln und ignorierte Bordkanone sowie Seifenblasen. Den Timer konnte man mit im Level verstreuten Sanduhren wieder auffüllen und einige Teleporter erleichterten die Reise zwischen der Spielwelt, die aus 32 (8×4) Bildschirmausschnitten bestand. Irgendwann hatte ich es geschafft und alle Diamanten rechtzeitig eingesammelt. Hoffte, dass nun etwas passiert und der nächste Level erscheint. Es passierte aber nichts und der Timer war darauf wieder abgelaufen. Was ein saublödes Spiel. Das mich dennoch faszinierte. Und so parkte ich es in der Erinnerung als rätselhaftes Spiel mit diffusem Spielprinzip ab, wo es ein paar Jahrzehnte vor sich hin dümpelte.
Netherworld reloaded – Magie, finnisches Teamwork und brachialer Sound
Auf der Liste der C64-Spiele, die ich neu erleben wollte, stand Netherworld weit oben. Einmal, weil ich wissen wollte, worum es eigentlich ging. Und auch, weil diese okkulte Atmosphäre so eine Wirkung auf mich hatte. Das Gute an der Kindheit ist ja, dass man mit der unbewussten Welt noch viel enger in Kontakt steht. Und „Magie“ nicht nur ein abstrakter Begriff ist, sondern etwas, das man tagtäglich erfahren konnte. Dummerweise verflüchtigt sich das (samt Erinnerung daran) mit zunehmendem Erwachsenenalter. Kleiner Trost: Mit dem Eintritt ins Greisenalter soll sich das wieder umkehren. Was erklärt, warum viele Hochbetagte wieder infantile Züge aufweisen und gerne blöd grinsen. Aber das ist ein anderes Thema. So habe ich Netherworld nach über drei Jahrzehnten neu gestartet und erblickte mit gealterten Augen den Startbildschirm. Die nun viel penibler auf Details achteten und erkannten, dass die beiden Entwickler eindeutig finnische Namen tragen. Man muss erwähnen, dass ein Zweierteam damals als progressiv galt und eher Ausnahme als Regel war – wurden die meisten C64-Spiele von nur einer einzigen Person gestaltet, programmiert, komponiert und getestet. Das ist ähnlich, als wenn in einer Arztpraxis die Sprechstundenhilfe neben Betreuung auch Webdesign und Darmspiegelung mit erledigt. Kann gutgehen, ist aber nicht wirklich zu empfehlen.
Als Programmierer und Gestalter trat Jukka Tapanimäki auf. Er soll auch Pate für das kuriose Cover gestanden haben. Es heißt, Hewson ließ das Werk heimlich und ohne seine Einwilligung zusammenpinseln. Tapanimäki war sichtlich geschockt (um nicht zu sagen „not amused“), als er bei der Präsentation des Spiels sein Konterfei auf dem Cover erblickte. Die Aufnahmeprüfung der Designuniversität in Helsinki hat er 1984 zweimal erfolgreich in den Sand gesetzt und sich das Programmieren mit dem C64 anschließend selber beigebracht. „Netherworld“ war nach „Octapolis“ (1987) erst sein zweites kommerzielles Spiel. Jukka Tapanimäki verstarb bereits im Mai 2000 mit nur 39 Jahren und veröffentlichte nach „Netherworld“ mit „Zamzara“ (1988) und „Moonfall“ (1991) lediglich zwei weitere Spiele. Was den Sound des Spiels betrifft, zeigt die Titelmelodie mit dem schrägen Titel „The Purser Stole My Gun“, dass der SID-Chip nicht umsonst als bester Soundchip der 8-Bit-Ära gilt. Das brachiale Klampfengewitter enthält Samples verzerrter Gitarrenriffs sowie digitalisierte Drum-Pattern. Musikalisch war Jori Olkkonen dafür verantwortlich (nennt sich heute Petrik Salovaara), der unter seinem Pseudonym „Yip“ (Akronym für „Why I pee“) in den Achtzigern eine Größe in der finnischen Demoszene darstellte und heute mit der C64-Gruppe „Artline Designs“ noch immer aktiv ist.
Netherworld – auf der Suche nach dem rätselhaften Setting
Mit dem heutigen Wiedereintauchen in die Spielwelt, und dem Wissen, dass man Diamanten einsammeln muss, war der erste Level schnell geschafft. Im Grunde gilt es, sich die Position und den schnellsten Weg zu den Klunkern zu merken. Also eher Merkspiel anstelle von Action. Warum nun Drachen und okkulte Kreaturen in der Welt herumlungern, bleibt offen. Der Titel „Netherworld“ (Unterwelt) deutet darauf hin, dass man eventuell im Purgatorium gelandet ist. Ob man dort durch Einsammeln von Diamanten wieder herauskommt? Die Bedeutung der restlichen Extras ließ sich durch Versuch und Irrtum freilegen. Das Fragezeichen hat erwartungsgemäß mal gute und mal schlechte Effekte. Hin und wieder gibt’s ein Extraleben und manchmal Unverwundbarkeit. Die „Fernsehantenne“ war ein Aha-Erlebnis. Das Symbol bedeutet, dass man damit die Ziegel zerstören kann, die oft den Weg blockieren. Und die Totenköpfe sind „Dämonenkiller“, die Drachen bei Berührung in Knochengerüste verwandeln, die fortan statt Seifenblasen nun (ihre eigenen?) Knochen ausspucken. Was für den Spielablauf aber keine Bedeutung hat. Um übrigens das nächste Level zu betreten, wenn alle Diamanten eingesammelt sind, muss man einen der Teleporter betreten. Was nirgends erwähnt wird.
Netherworld, another time another place, created from the deep dark subconscious of the mind where the forces of good and evil are locked in eternal combat. Trapped in the fantasy world the only way back is through battle and bribery.
Hewson Werbeplakat, 1988
War der erste Level noch moderat, zieht der Schwierigkeitsgrad spätestens ab dem drittel Level durch das knappe Zeitlimit an. Um nicht wochenlang an Netherworld zu verzweifeln, nahm ich die Speicherfunktion des C64-Emulators dankend an. Sind die zwölf Level geschafft, erwartet einen kein bombastischer Abspann, sondern lediglich der recycelte „Get Ready“-Bildschirm mit alternativem Text: „Nice Blasting“ – Minimalismus am Rande der Perfektion. Mag sein, dass Jukka Tapanimäki selber nicht davon ausging, jemand (außer er selber) würde das Spiel jemals schaffen. Bleibt noch die Frage nach dem Warum. Etwas Licht ins Dunkel bringt ein englisches Werbeplakat von 1988, das dem bekannten Cover entspricht und einen erläuternden Text beherbergt. Also nichts mit Weltall, Vorhölle oder fremder Alien-Dimension. Netherworld spielt schlicht im menschlichen Unterbewusstsein, wo der Spieler im eigenen Geist gefangen ist und seinen Weg durch Bestechung mit Diamanten wieder heraus finden muss. Gut, darauf hätte man kommen können. Es enthüllt zwar das Setting, wirft gleichzeitig aber viele neue Fragen auf. Und das ist ja so reizvoll an den uralten Spielen. Dass nämlich kaum Fragen beantwortet werden. Wäre „Netherworld“ im Jahr 2021 entstanden, hätte man sich als erstes durch eine halbe Stunde Zwischensequenz-Blabla hindurchquälen müssen, bevor der Joystick auch nur einen Ruck ausführt.
Fazit: Netherworld – verblüffend gut gealtert!
Netherworld ist sicherlich kein spielerisches Meisterwerk, das man in den Auslesen allerbester C64-Games wiederfindet. Aber es ist eines von den relativ wenigen Spielen, die handwerklich so solide gemacht sind, dass sie heutigen Anforderungen noch immer genügen. Bei vielen anderen Games merkt man sofort, wie schlecht sie gealtert sind. Und damit ist nicht die grobkörnige 16-Farben-Grafik gemeint, sondern die Gesamtkomposition eines Spiels, d. h. wie es sich anfühlt und ob die einzelnen Komponenten miteinander harmonieren. Die Crux alter C64-Spiele ist meist die schlampig umgesetzte Steuerung. Wenn sich die Spielfigur schleppend bewegt, als wäre sie im Teer steckengeblieben, beim Sprung ewig in der Luft hängt oder eine minimale Richtungsänderung einen meterweit fortschleudert, dann hat man das damals so inkauf nehmen müssen. Und führte dazu, dass bei jedem Spiel die Steuerung neu erlernt werden musste, weil es keinen Standard gab und jeder Programmierer das nach eigenem Gutdünken umgesetzt hat. Heute weiß man, dass Schulphysik auch in Spielen gilt und selbst ein Jesse Owens keine zwölf Meter aus dem Stand gesprungen ist.
Eine weitere Qual, um die man sich früher als Entwickler kaum Gedanken gemacht hat, ist das musikalische Hintergrundgedudel als akustische Dauervergewaltigung. Sicher, der SID-Chip war originell und einzigartig. Er war aber auch ziemlich markant und beißend. Ähnlich einer Habanero, die man nur in homöopathischen Dosen gut verträgt. Und wenn ein Spiel nur eine einzige Hintergrundmelodie besitzt, die prägnant in Dauerschleife immer wieder abgenudelt wird, geht einen das spätestens nach fünf Minuten auf den Sack. Und zuletzt ist da noch etwas, das einen schon damals viele Frustmomente bescherte und dazu führte, dass der Joystick regelmäßig gegen die Wand flog und in alle Einzelteile zerbrach – sofern es kein unverwüstlicher „Competion Pro“ war. Es war die Tatsache, dass Spielfortschritte viel zu selten berücksichtigt wurden und der kleinste Fehler einen wieder ganz an den Anfang zurück katapultieren konnte. Ähnlich, als wenn man eine Klausur in Bauphysik verhaut und anschließend wieder im Kindergarten Sandburgen baut.
Das alles sind Aspekte, die (gut realisiert) für eine positive Spielerfahrung sorgen. Und die hat Netherworld gemeistert. Angefangen bei der butterweichen Steuerung mit 8-Wege-Scrolling. Dazu eine saubere Kollisionsabfrage und ein physikalisch authentischer Rückstoß – lange bevor Gordon Freeman die Physik in Spielen populär machte. Der brachiale Titelsound bleibt glücklicherweise beim Titel, die Spielwelt kommt mit wenigen dezenten Soundeffekten aus. Selbst die Bordkanone klingt wie eine Kanone und nicht wie Nachbars Hund. Und hat man einen späteren (ungeraden) Level erreicht, lässt sich das Spiel von dort aus jederzeit wieder neu starten. Dafür sollte man Jukka Tapanimäki eigentlich das Designdiplom postum nachverleihen. Und damit endet der Ausflug in eine andere Zeit. Die goldene C64-Ära bringt einen Netherworld zwar nicht zurück, aber für ein paar Augenblicke flackerte in mir tatsächlich wieder dieses alte Gefühl universeller Einheit auf, das ich blöd grinsend in Empfang nahm.
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