Mitte der Neunziger tat sich im Bereich elektronischer Tanzmusik wieder etwas. Nachdem Techno, Trance und House jahrelang dominierten, betrat Drum ’n‘ Bass auch bei uns die Bühne und wurde populär. Neben dem schnellen Breakbeat um 160 bpm wuchs aber auch noch etwas anderes heran, das seine Wurzeln mal wieder in London hatte. Ab 1995 hatte das Kind auch einen Namen, der schlicht Big Beat lautete. Langsamer, schmutzig und mit starken Einflüssen aus Funk, Hip Hop, Electro, Rock und Acid.

The Dust (Chemical) Brothers – Urväter des Big Beat
Vom Breakbeat zum Big Beat
Aus geloopten Breaks von Funk-Platten der Sechziger und Siebziger neue Drum-Pattern zu kreieren, war im Hip-Hop bzw. Old School Rap der frühen Achtziger schon Usus. Der legendäre Break von den Bar-Kays in „Holy Ghost“ (1978) oder „Apache“ (1973) von Michael Viner’s Incredible Bongo Band wurden reichlich verwendet, unter anderem von Grandmaster Flash und Afrika Bambaataa.
Anfang der Neunziger gingen diese auf 140 bpm gepitchten Breakbeats erst als Hardcore, dann mit einer Geschwindigkeit um 160 bpm als Jungle auf Vinyl. Hier fällt besonders der „Amen, Brother“-Break (1969) der Winstons ins Auge, der um 1994 in gefühlt jedem zweiten Jungle-Track als Basis der Drumloop diente.
Die Londoner Dust Brothers (später aufgrund der Namensgleichheit mit ihren amerikanischen Produzenten-Kollegen in Chemical Brothers umbenannt) veröffentlichten 1992 ihren ersten Breakbeat-Track namens „Song to the Siren“, der als Vorläufer des späteren Big Beat gilt. Dummerweise war zu jener Zeit gerade Hardcore-Hype, und ihre erste White-Label-Pressung von 500 Kopien wollte kein Plattenladen in London haben, da die Platte mit 111 bpm viel zu langsam war. Dennoch, der Track wurde zu einem Klassiker. Und der richtige Big Beat-Hype folgte dann ab 1995.
Persönlich aufmerksam auf dieses neue Genre wurde ich 1994 mit The Prodigy, deren Album „Music For The Jilted Generation“ damals die Charts hochkletterte. Das Album ist ein bunter Mix aus verschieden experimentellen Ansätzen, und noch heute sind die Meinungen gespalten. Einige liebes es als Prodigy‘s bestes Album, andere hassen es. Mir persönlich war das Album etwas zu poppig – nichtsdestotrotz stach ein Track namens „Poison“ heraus, der mit seinem überaus schmutzigen 105 bpm Breakbeat und den verzerrten Synths die Zeit gut überstanden hat und noch heute gut funktioniert.

The Prodigy – Poison (offizielles Video, 1994)
Ein Jahr später kam die Sony PlayStation heraus. Ein Kumpel hatte sie als erstes und kam mit dem grauen Kasten abends vorbei. Und so zockten wir Wipeout und waren baff. Einmal, weil plötzlich elektronische Musik in CD-Qualität aus der Videospiel-Konsole kam, und auch weil da wieder dieser schmutzige Breaks-Acid-Sound war (Chemical Beats von den Chemical Brothers), den man seit Poison nicht mehr gehört hatte. Wir rätselten, wie man diesen Style nennen sollte, war er doch weder Hardcore noch Techno. Am Ende einigte man sich auf sowas wie „Acid-Breakbeat“. Der offizielle Name verbreitete sich dann wenig später, und das Gerücht besagt, dass er auf Fatboy Slim’s Brightoner Clubnacht basiert.
The name came from our club, the Big Beat Boutique, which I’m tremendously proud of. I always thought the formula of big beat was the breakbeats of hip-hop, the energy of acid house, and the pop sensibilities of the Beatles, with a little bit of punk sensibility, all rolled into one.
Norman Cook (Fatboy Slim)
Erfolgsrezept: die nötige Portion Schmutz
Und so nahm der Hype um Big Beat seinen Lauf. Kaum zwei Jahre später waren schon die ersten Werbeclips im TV und ein paar Action-Szenen in Filmen mit Big Beat unterlegt. Da fragt man sich, was genau es war, das diesen Stil damals so erfolgreich machte? Ich vermute, es lag zum Großteil an der „Portion Schmutz“, die man seit den frühen Achtzigern immer mehr vermisste. Damals, zu Zeiten des Old School Rap, als DJs wie Davy DMX oder Jam Master Jay wuchtigen Beat und rohe Soundcollagen lieferten. Da klang vieles noch wie mit dem Vorschlaghammer produziert, hatte organische Züge und war nicht bis ins Detail durchstrukturiert, maschinenhaft präzisiert und blank geputzt.
Der Techno-Sound der frühen Neunziger hatte ebenfalls noch diesen gewissen Schmutzfaktor, war aber nie Musik für Charts, TV-Clips und bürgerliche Ohren. Dafür war er zu speziell, monoton und auf künstliche Klänge beschränkt. Durch die Fusion von Funk-Breaks der Siebziger mit TB-303-Acid-Sequenzen, verzerrten Gitarren-Loops und Vocals wurde nun wieder etwas erschaffen, das nicht wie weichgespülte Kirmesmusik klang, zu der z. B. Trance immer mehr wurde. Zudem war es Musik, mit der sich auch Anhänger von Rock oder Hip-Hop anfreunden konnten. Oder anders ausgedrückt: Big Beat war von Natur aus salonfähiger als die meisten anderen EDM-Stile.
Zehn Big Beat-Klassiker, die man gehört haben sollte
- The Dust Brothers – Song To The Siren (1992)
- Ceasefire – Trickshot (1995)
- Dub Pistols – Westway (1997)
- Fatboy Slim – We Really Want To See Those Fingers (1995)
- The Prodigy – Poison (1994)
- Fluke – Setback (1997)
- Leftfield – Inspection (1995)
- Chemical Brothers – Playground For A Wedgeless Firm (1995)
- The Crystal Method – Come2gether (1996)
- Propellerheads – Take California (1996)
Zwanzig Jahre später …
Big Beat gibt es heute noch immer. Man könnte sagen, er war nie wirklich weg. Aber so richtig da ist er auch nicht mehr. Die erfolgreichsten Vertreter, die Chemical Brothers, haben in den letzten Jahren Grammys gewonnen und etliche Alben produziert, die sehr erfolgreich waren. In das neueste Album „Born in the Echoes“ (2015) habe ich reingehört. Es ist schon recht poppig und gewöhnungsbedürftig. Aber auch verständlich, wenn man den Bekanntheitsgrad der beiden in Betracht zieht und ihr Schaffen in Relation zum veränderten Zielpublikum setzt.

Big Beat Releases seit 1993
Schauen wir auf Discogs nach, wie sich die Anzahl an Big Beat-Veröffentlichungen seit 1993 entwickelt hat. Und wir stellen fest, dass Big Beat seine Blütezeit offensichtlich zwischen 1996 und 2001 hatte. Dennoch wird auch heute noch einiges produziert. Im Vergleich zu 1997 ist das aber verschwindend gering. Vielleicht wird es irgendwann eine Renaissance dieses Genres geben, oder etwas ähnliches unter anderem Namen?
In the mix: Paul Presents „Rough Kut Edges“
Passend zum Thema darf der Mix nicht fehlen. Und mit der neuen Mix-Serie „Rough Kut Edges“ versuche ich dem langsamen Breakbeat eine Heimat zu geben. Und der beginnt bereits in den Achtzigern bei Hip-Hop und Electro, zieht sich dann über langsamen Breakbeat der frühen Neunziger bis hin zum Big Beat der späten Neunziger.
Tracklist
- Underkut – Both Ends (DJ Fusion Mix) [Mendoza 1991]
- Bitin‘ Back – She’s Breaking Up [Fokus 1991]
- The Hang Over Red – Sign Your Head [Superstition 1999]
- Dynamix II – People of Earth Attention [Dynamix II Records 1993]
- Mekon – Phattys Lunchbox (Les Rythmes Digitales Mix) [Wall Of Sound 1997]
- Knightz of Bass – Da M-Pire [Rough Trade 1998]
- Captain Rock – The Return Of Capt. Rock [NIA 1983]
- Jonzun Crew – Pack Jam (Look Out For The OVC) [Tommy Boy 1982]
- DJ Flash – Hittin’ Hard [Flash 1985]
- Kraftwerk – Die Roboter [Kling Klang 1979]
- Chamber – Mercedes Bends [Hydrogen Dukebox 1998]
- Dave Clarke – No Ones Driving (Chemical Brothers Mix) [Bush 1996]
- FSOL – We Have Explosive [Virgin 1997]
- Chemical Brothers – Chemical Beats [Freestyle Dust 1995]
- Sabres of Paradise – Tow Truck (Chemical Brothers Mix) [Warp 1995]
- Chemical Brothers – Loops of Fury [Freestyle Dust 1996]
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