Denkt man an die ältesten Vertreter elektronischer Tanzmusik, kommen einen sicherlich Chicago House und Detroit Techno als Ur-Formen von House und Techno in den Sinn, die Mitte der Achtziger den Grundstein für viele elektronische Genres legten. Doch halt, da gab es mit Acid House ja noch ein anderes Phänomen, das zwischen 1987 und 1989 die Achtziger elektronisch rockte. Auch wenn der Hype schnell verpufft war, so hat er doch seine Spuren hinterlassen. Die Acid-House-Bewegung brachte nicht nur Ecstasy, illegale Raves und den Smiley in die Schlagzeilen, sie festigte auch einen Untergrund in der Jugendkultur, der noch viele Jahre zusammen mit elektronischer Musik weiterexistieren sollte.
Im Gegensatz zur Technokultur, die ich ab 1992 selber miterleben durfte, lag Acid House ein paar Jahre vor meiner Zeit. Da ich 1987 noch in Fliegerjacke mit „Iron Maiden“-Aufnäher herumgelaufen bin, wäre ich für den Sound vermutlich eh kaum empfänglich gewesen. Ein Jahr später hatte ich mich von der Jugendsünde „Heavy Metal“ verabschiedet und war dem frühen Hip-Hop und Rap angetan. Gleichzeitig faszinierten mich die Breaks-Soundcollagen von M|A|R|R|S und Bomb The Bass, die im Walkman und auf dem Jahrmarkt dudelten. „Pump Up the Volume“ und „Beat Dis“ waren strenggenommen zwar kein Acid, gingen in Sachen modulierter Bassline aber schon in eine sehr ähnliche Richtung. Den Begriff „Acid House“ habe ich erst viele Jahre später zum ersten Mal gehört, und so richtig einordnen konnte ich ihn nicht. Acid war mir natürlich ein Begriff, aber wie passte das zu House? Ein House-Track mit 303-Bass?
Vom Prinzip schon, aber auch anders. Nach etwas Recherche stolperte ich über „Theme from S’Express“ (1988), das damals in den Charts rauf und runter lief und ich einordnen konnte. Damit war die Neugier vorerst gedeckt. Nur lernt man aber kein Genre über die Hitparade kennen. Das wäre lediglich an der Oberfläche kratzen und ähnlich, als wenn sich jemand zum Experten für Rock erklärt, weil er mal eine Stones-Platte in den Händen gehalten hat. Angefixt wurde ich dann vor ein paar Monaten, als sich mit „Urban Acid“ eine 1988 erschienene Compilation des Liverpooler Urban-Labels in meine Tonträgersammlung eingefunden hatte. Hm, was ist das denn Schräges? Anfangs skeptisch, fand ich schnell einen Draht zum flippigen Sound, der bekannte Elemente späterer elektronischer Musik in sich trägt und gleichzeitig nach den guten alten Achtzigern klingt. Ich beschloss, mich tiefer in die Materie reinzuhören und etwas im Acid-Geschichtsbuch zu blättern. Und landete unvermeidlich bei Rolands Kult-Synth, mit dem bekanntlich alles angefangen hatte.
Roland TB-303 – vom gefloppten Bass-Synth zum Kultgerät
Mit der „Transistor Bassline“ (TB-303) brachte Roland 1981 einen analogen Bass-Synth heraus, der eigentlich als Bassisten-Ersatz in einer Rockband konzipiert war. Die Ausstattung mit Oszillator (wahlweise Sägezahn- oder Rechteck-Wellenform), einem Stepsequenzer sowie einer Filtereinheit fiel etwas spartanisch aus. Eine MIDI-Schnittstelle fehlte (kam erst 1982 auf den Markt) und das Tempo wurde mit einem einfachen Drehregler irgendwo zwischen „slow“ und „fast“ eingestellt. Im Studio hätte das Gerät als Soundmodul so seine Nachteile gehabt. Aber das war ja nicht die Zielgruppe. Bei Roland stellte man sich wohl als Käufer einen Sologitarristen vor, der zusammen mit der optisch ähnlichen „Transistor Rhythm“ (TR-606) als Drumcomputer und der TR-303 als Bassersatz seine Auftritte vor Publikum liefert. Und so eine krude Sound-Mischform präsentiert, die gleichzeitig synthetisch und handgemacht klingt.
In den Achtzigern war ja vieles erlaubt, da konnte man auch Anzüge zu alten Turnschuhen mit neonfarbenen Schnürsenkeln tragen. Doch auch wenn kulturelle Dissonanzen damals angesagt waren, kam der unnatürliche Klang der TB-303 bei der Zielgruppe nicht an und das Gerät floppte. Wurde 1984 sogar vom Markt genommen. Wäre wahrscheinlich auf ewig versunken, hätten nicht ein paar Kreative ein paar Jahre später herausgefunden, dass man mit knapp eingestelltem Tiefpassfilter bei gleichzeitig hoher Resonanz den Bass wieder mit Obertönen anreichert und in akustische Bereiche vordringt, die man so vorher noch nie gehört hatte.
Das Jahr 1985 – die Geburt des Acid Sounds
Eigentlich geschah es schon zwei Jahre zuvor. Kurioserweise weder in den USA noch Europa, sondern dort, wo man es am wenigsten vermutet hätte. Der indische Musiker Charanjit Singh erschuf mit seiner 1983 veröffentlichten LP „Synthesizing – Ten Ragas To A Disco Beat“ einen auf der TB-303 sowie TR-808 basierenden Experimentalsound, der aus heutiger Sicht schon deutlich schräge Züge von Acid, Techno und Goa in sich trägt. Kommerziell erfolgreich wurde das Album nie und blieb im Westen weitestgehend unentdeckt. Inzwischen ist die Platte dank größerer Aufmerksamkeit zum Sammlerstück geworden, für die man als Interessent bei Discogs im Schnitt 1.500 Euro hinlegen muss.
1985 war es dann soweit und ein Track vom House-Kollektiv Phuture erschien, der seiner Zeit um mindestens fünf Jahre voraus war. Das waren Marshall Jefferson, DJ Pierre und Earl Smith Jr. aus Chicago, die mit der TB-303 experimentierten und entdeckten, dass der Bass-Synth entsprechend gefiltert ziemlich schräge Töne ausspuckt. Phuture ist sicherlich vielen indirekt durch das „This is cocaine speaking …“-Sample aus „Your Only Friend“ (1987) bekannt, das im Laufe der Jahre von etlichen verwurstet wurde (u. a. von Emmanuel Top). Wie dem auch sei, diese modulierte Bassline zusammen mit einem Drumpattern nannten sie „In Your Mind“ und gaben sie DJ Ron Hardy, der sie im Chicagoer Club „Muzic Box“ in seine Sets einbaute. Bald sprach man bei diesem Exot nur noch vom „Acid Track“, wobei nicht ganz klar ist, ob „Acid“ damals in Anlehnung an LSD (musikalischer Trip) oder dem modulierten TB-303-Bass (beißend wie Säure) entstanden ist.
Proto-Acid-House – Made in USA
1987 wurde Phutures Frühwerk als „Acid Trax“ auf dem Chicagoer Trax-Label veröffentlicht und gilt heute als eines der ersten veröffentlichten Acid-House-Produktionen. Wobei „House“ ein wenig irreführend ist, handelt es sich im Prinzip um reines Acid-Techno ohne House-Elemente. Das gab es 1987 aber noch nicht, und da „Acid Trax“ später in England ein beliebter Track der Acid-House-Bewegung wurde, kategorisiert man es eben dort. Der verzerrte Bass setzte sich ab 1986 zunehmend in US-Produktionen durch und beeinflusste sowohl Chicago House als auch Detroit Techno, also die beiden zu jener Zeit dominierenden Stile elektronischer Tanzmusik. Die Unterscheidung, ob es sich um Acid House, Detroit Techno oder Chicago House handelt, fällt bei vielen Platten nicht leicht, da fast immer von allen Stilen etwas mit dabei ist. Man kann allerdings guten Gewissens behaupten, dass Mitte der Achtziger die USA in Sachen elektronischer Musik dem Rest der Welt weit voraus waren. Dazu zehn US-Veröffentlichungen, in die man mal reinhören sollte.
- Mr. Fingers – Acid Attack [Jack Trax 1988]
- Bam Bam – Where’s Your Child? (Suck Mix) [Desire 1988]
- Maurice Joshua – This Is Acid [Trax 1988]
- Tyree Cooper – Acid Over [Underground 1987]
- Adonis – No Way Back [Trax 1986]
- Phuture – Your Only Friend [Trax 1987]
- Hanson & Davis – Tonight (Love Will Make It Right) (Dub) [Fresh 1985]
- Fast Eddie – Acid Thunder (Smooth Thunder) [D.J. International 1988]
- Mike Dunn – Life Goes On [Westbrook 1988]
- James Jack Rabbit – Let Us Have Love (Step By Step) (Step By Acid) [Housetime 1989]
Acid House kam nach England … und wandelte sich
Das kratzige Acid-Gemisch fand ab 1987 seinen Weg nach Europa und schlug im konservativen Thatcher-England ein. Also dort, wo Maggie zuvor die Gewerkschaften entmachtete und Fabriken stilllegte, um den Dienstleistungssektor anzukurbeln. Das Resultat waren hohe Arbeitslosigkeit, Unruhen und vernachlässigte Innenstädte. Das alles trübte die Stimmung und hatte seinen Einfluss auf die Club-Kultur. Man sagt, zu jener Zeit war die britische Jugend nur zum Saufen und Prügeln in den Nachtclubs unterwegs. Eine der wenigen Ausnahmen bildete Manchester, wo sich im Club „The Haçienda“ eine überwiegend schwarze Partykultur gebildet hatte, die zu House, Soul und Electro-Funk feierte. Und dann kamen zwei Dinge zusammen, die wie Feuer und Öl wirkten. Einmal begannen britische DJs damit, den aus den USA importierten Acid-Sound in den Clubs zu spielen. Und gleichzeitig wurde Ecstasy (kurz „E“) populär, das zu der Zeit noch reines MDMA enthielt und zu ungehemmter Euphorie führte. Und dann ging alles ganz schnell.
Before acid house, nightclubs in Britain were mostly depressing places where revellers went to get drunk and perhaps meet someone of the opposite sex or fight someone of the same sex.
Luke Bainbridge, The Guardian
Etwas Hoffnungsvolles entstand. Aus den trostlosen Veranstaltungen mit gefrusteten Jugendlichen wurden wieder Orte, wo ekstatisch zum Sound getanzt wurde. Und sich durch alle Schichten ein starkes Gemeinschaftsgefühl entwickelte. Londoner Clubs wie „The Trip“ und „The Shoom“ (unter der Woche ein Fitnessstudio) veranstalteten erste Acid-House-Partys und schnell etablierte sich als Erkennungszeichen der Bewegung der bekannte Smiley. War Acid House in den USA noch ein reines Underground-Phänomen, das ausschließlich in Clubs gespielt wurde, wurde daraus in England innerhalb weniger Monate eine Jugendbewegung, die auch zu selbstorganisierten Partys in alten Fabrikhallen oder irgendwo draußen auf dem Feld abfeierte. Und das völlig ohne Dresscode. Schaut man sich alte Aufnahmen früher Acid-House-Partys an, fällt auf, dass von Anzügen mit Schulterpolstern, T-Shirts und Latzhosen eigentlich alles vertreten ist.
Mit Eintreffen auf dem europäischen Kontinent entwickelte sich der Sound weiter und ging in eine mehr tanzbare Richtung. Während US-Produktionen aus heutiger Sicht mehr Ähnlichkeit zum minimalen Detroit Techno haben, wurde europäisches Acid House treibender, mit repetitiven Vocal-Samples, poppigen Synth-Flächen sowie Perkussionsinstrumenten. Also genau der Sound, der einen beim Feiern in Ekstase versetzt. Und den erschufen von nun an auch heimische Pioniere wie Brian Dougans, der später mit Garry Cobain „Future Sound of London“ gründete. Er veröffentlichte 1988 als Humanoid den Acid-Klassiker „Stakker Humanoid“. Martin Freeland (später als „Man With No Name“ in Sachen Psytrance unterwegs) war als Pozitiv Noize einer der Pioniere, die dem britischen Acid-House ein neues Gesicht gaben. Er hat zwar nur wenige Sachen selber veröffentlicht, steckte dafür aber als Produzent und Remixer hinter vielen Projekten, wie z. B. „Perfectly Ordinary People“, „Mista E“ und „Charm“.
Und auch an Deutschland ging der Kelch mit Acid House nicht vorüber. Westbam zeigte mit „Monkey Say, Monkey Do“ bereits 1988, dass auch auf dem Festland „proper Acid“ produziert werden kann, das sogar von britischen DJs in ihre Sets eingebaut wurde. Hierzulande waren es das Omen in Frankfurt (sowie die Flughafendisco Dorian Gray), wo man zu Acid House abfeiern konnte. Selbst im Radio wurde man fündig, legte der HR die Sendung „Sounds of Synthesizer“ auf, die bis Anfang 1986 lief. In Berlin war es der UFO-Club (später Tresor), der der damaligen Jugend zur Zeit des Mauerfalls neue Hoffnungen gab – wo Gegensätze keine Rolle mehr spielten und man (mit oder ohne „E“) zu zischenden Beats ohne politische Botschaft die Nacht abfeierte.
Ab 1989 – Als Kommerz und Politik den Hype verpuffen ließen
War das Phänomen anfangs nur einer Handvoll Menschen bekannt, konnte man kaum ein Jahr später auf der Titelseite der „Sun“ vom „Evil Acid“ lesen. Das alles verstörte im „Second Summer of Love“ (1988) Eltern, Lehrer als auch Politiker. Und führte so weit, dass ein Verbot repetitiver Musik öffentlich diskutiert wurde. Die öffentliche Stimmung gegenüber Acid House kippte und Partys wurden von den Behörden stumpf als illegal erklärt. Das hinderte natürlich niemanden am Weiterfeiern, sondern erhöhte sogar noch den Reiz. Die Locations wurden bis kurz vor Beginn geheim gehalten und über versteckte Botschaften und Mundpropaganda verraten. So schafften es die Veranstalter, tausende Feiernde in alten Lagerhallen zu versammeln, ohne dass die Staatsgewalt etwas mitbekam und die „illegale Party“ sprengen konnte.
Die Erfahrung der letzten Jahrhunderte sollte eigentlich zeigen, dass staatliche Verbote eine Sache in der Regel nicht weniger attraktiv, sondern meist noch reizvoller machen. Demnach hätte Acid House noch viele Jahre weiterexistieren müssen. Was aber die Politik nicht schaffte, erledigte fortan der Mainstream. Nachdem die Acid-House-Bewegung in den Abendnachrichten angekommen war, witterte die Industrie ihr großes Geschäft. Neue Super-Clubs wurden gebaut, Gimmicks und Klamotten produziert, und die Acid-Kuh wurde gemolken. Ein Zustrom von Ravern war die Folge, die das revolutionäre Gefühl der Pioniere weder verstanden noch teilten, und sich mehr vom kommerziellen Ansatz angezogen fühlten. So war die Luft aus der Acid-House-Blase raus, weil viele der ersten Stunde sich nicht kommerzialisieren ließen und ihr Heil dann lieber doch in anderen Nischen suchten.
Aus dem Leben – elektronische Musik machen als Hobby
Selber elektronische Musik zu machen, in die Welt der Synthesizer, Sampler und Effektgeräte einzutauchen, war eines meiner Hobbys zwischen 1995 und 2003. Dabei hatte ich Jahre zuvor mit dem Musikunterricht auf dem Gymnasium so gar nichts am Hut. Hätte der biederen Musiklehrerin am liebsten den Taktstock zerbrochen. Es war auch eine Farce, uns Heranwachsenden das wichtige Element „Musik“ näherzubringen, indem man jede zweite Woche „Heut‘ kommt der Hans zu mir“ singen lässt. Und man als Vierzehnjähriger wie ein Volltrottel am Xylophon steht. Resultat ist, dass ich heute nur marginal Noten lesen kann und kein einziges klassisches Instrument beherrsche.
Fünf Jahre später kam ich dann doch zum musikalischen Hobby. Einer der Kumpels hatte im Elektromarkt eine „Sound Blaster AWE32“ mitgenommen und erklärt, dass er nun Beats produziert und (… logisch) schnell reich wird. Da sein gesamtes Taschengeld stets im Bong landete, kam die Frage auf, wovon er sich diese teure Soundkarte überhaupt geleistet hatte. Es wurde klar, dass mit „mitgenommen“ viel mehr „unter der Jacke heimlich nach draußen befördert“ gemeint war. Was bei dem riesigen Karton an der Kasse ein selten schräges Bild abgegeben haben muss. Immerhin hatten wir nun eine Anlaufstation, wo jeder mit einem Tracker-Sequenzer auf einem Pentium-PC mit Edelsoundkarte mal eben „Techno“ machen konnte. So zumindest die Idee. Es kam aber immer ein ziemliches Gulasch dabei heraus, das bis auf die 4⁄4-Takt-Bassdrum kaum Ähnlichkeit mit dem hatte, was als Techno in den Plattenläden so herumstand.
Die Kumpels hatten sich nach gescheiterter Karriere als Hitproduzent schnell wieder ihrer Hauptbeschäftigung gewidmet, die aus Abhängen, Super Nintendo zocken und Baguette bestellen bestand. Und natürlich der einzig relevanten Frage im Leben, welche Grassorte nun am besten kickt. So schnell wollte ich aber nicht aufgeben. Spürte, dass mehr drin ist. Ich baute in meinen alten 486er eine einfache 16-Bit-Soundkarte ein und spielte daheim weiter mit dem MS-DOS Fastracker II herum. Sampelte von meinen Platten kurze Sequenzen und fügte diese neu zusammen. Und stieß rasch an die Grenzen des bescheidenen Equipments. Für mehr war kein Geld vorhanden – und „die Jacke“ wäre nicht mein Stil gewesen.
Weil ich die Abi-Nachprüfung (um 11:45 Uhr) verpennt hatte, war ich im Frühsommer 1996 der einzige von uns, der ohne Matura dastand. Das war blöd, durfte ich mir wochenlang blöde Sprüche anhören. Hatte aber den enormen Vorteil, dass ich nun arbeiten und Geld verdienen konnte, während die anderen sich aufs Studium vorbereiten mussten. Ohne gescheiten Abschluss gab’s für mich zwar nur mies bezahlte Drecksarbeit, aber im Vergleich zum Taschengeld war es ein Quantensprung in der Geldbörse. Die angesparte Kohle steckte ich komplett in musikalisches Equipment.
Mit der „Terratec EWS64 XL“, „Cubase 3.5“ und „WaveLab 1.0“ ging es 1997 los. Als ersten analogen Synthesizer gönnte ich mir die „Waldorf Pulse“, später kam der „Roland JD-800“ hinzu, welcher nicht nur als Klangerzeuger, sondern mit seiner 5-Oktaven-Tastatur auch zum Üben von Akkorden diente. Es folgte der virtuell analoge „Yamaha AN1X“ (1998) und ein „Roland XV-3080“ (2001) Soundmodul mit 128 Stimmen. Beigebracht habe ich mir alles selber. Während andere abends vor der Glotze hingen, holte ich mir aus der „Keyboards“ musikalische Infos und spielte bis tief in die Nacht mit Drehreglern, Filtereinheiten, Hüllkurven und Oszillatoren herum.
In meiner Aussteigerzeit zwischen 1998 und 2001 hatte ich für Hobbys am meisten Zeit, und damals entstand auch der Großteil meiner Sound-Experimente. Als „From The Archives“ habe ich diese online gestellt. Wenn ich heute nach fast 20 Jahren wieder reinhöre, grinse ich über den bunten Haufen an unterschiedlichen Stilen und Einflüssen. Da war elektronische Musik, Musik des Mittelalters, Traditionelles aus Asien sowie Orchestermusik – was ich mit Anfang Zwanzig am liebsten alles gleichzeitig abgefrühstückt hätte.
Ab Mitte 2001 lag die Rückeroberung des Abiturs an und ab 2003 dann das Studium, was die Zeit für Hobbys quasi auf die leere Menge ∅ beschränkte. Mit dem Diplom und dem Ende des Studiums hatte ich dann 2008 zum letzten Mal Gelegenheit, um für mein selber programmiertes Spiel Yoxxi (Studienarbeit von 2007) einen asiatisch angehauchten Soundtrack zu produzieren. Danach wurde es ruhig, um nicht zu sagen ziemlich geräuschlos. Meine gesamte Hardware wurde im Laufe der Jahre verkauft und ich ging davon aus, dass dieses Hobby ein für allemal abgehakt ist.
Fazit: „Healing The Wounds Of This Nation“
Es ist ein wenig deprimierend, dass diese Zeit nun über dreißig Jahre zurückliegt. Und sowas so schnell auch nicht wiederkommt. Auch wenn ich für Acid House damals noch ein wenig jung war, hatte elektronische Tanzmusik in den frühen Neunzigern noch immer den Charakter einer Aufbruchszeit, die der stumpfe Kommerz (zumindest bis 1994) nicht kontaminiert hatte. Um diese Zeit zu würdigen, und damit den grellen und ausgeflippten Sound der endenden Achtziger, gibt’s von mir den extra dafür produzierten Track „Healing The Wounds Of This Nation (I Think of You)“, der mich nach zwölf Jahren Pause wieder mit Cubase, WaveLab und VST-Synths, -Samplern und -Effekten herumspielen ließ.
Das hat mich ein paar Wochen Zeit gekostet (Homeoffice sei dank), aber es war schön, das alte Hobby nach so langer Zeit mal wieder auszugraben. Realisiert wurde alles mit Software-Synthesizern und -Samplern. An fremden Vocal-Samples kamen lediglich Little Annies laszives „I think of you“ und Yanka Rupkinas durch Mark und Bein dringende Folk-Röhre von 1988 ins Spiel. Die verhackstückten bereits Fluke und Leftfield in den Neunzigern. Und dann sind da noch Sprachfetzen von drei US-Präsidenten: Einer mit Anstand (Richard Nixon), einer mit Humor (Ronald „We begin bombing in five minutes!“ Reagan) und ein eher unfreiwillig Komischer, dessen Twitter-Account kürzlich gesperrt wurde.
In the mix: „Paul Presents Remember Acid“
Der 45-minütige DJ-Mix rundet das Thema dann mit einer Auslese europäischer Acid-House-Tracks ab, die alle um 1988 entstanden sind. Für die illegale „Corona-Silvesterparty-2020“ sicherlich eine perfekte musikalische Begleitung.
- Bomb The Bass – Shake It [Rhythm King 1988]
- The Candy Man – The Candy Man [Urban 1988]
- Charm – Predator (Scare) [Urban 1988]
- Perfectly Ordinary People – Theme From P.O.P. [Urban 1988]
- Pozitiv Noize – It’s All In Your Mind [Urban 1988]
- Westbam – The Wall [Low Spirit 1989]
- Acid Gang – Ghetto Ratz [Needle 1988]
- U 2 Hi! – Go head (The Stroboscope Mix) [Debut Edge 1989]
- Pozitiv Noize – Africa [Urban 1989]
- Mista E – Dont’t Believe The Hype (Urban House Mix) [Urban 1988]
- Paul Katz – Healing The Wounds Of This Nation (I Think of You) [Self Release 2020]
- Pozitiv Noize – I Feel Fine [Urban 1989]
- Charm – Housegirl (Club Mix) – I Feel Fine [Urban 1988]
- Westbam – Bring That Beat Back [Low Spirit 1989]
- A Guy Called Gerald – Voodoo Ray [Rham! 1989]
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